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Undinge an Universitäten

Didier Eribon würde sie wohl als statistische Wunder[1] bezeichnen
– aber vielleicht sollte man sie lieber Undinge nennen?

 

Das Un- markiert eine bestimmte Form der Verneinung – verneint wird etwas, das es vorher schon gab[2]. Auf die Ungebildeten scheint diese Regel nicht zuzutreffen, denn man wird ja durch Bildung vom Ungebildeten zum Gebildeten, und nicht umgekehrt? Hier war der Ungebildete früher da als die Gebildete. Oder stehen die Ungebildeten zwischen den Gebildeten und den Nicht-Gebildeten als nicht genügend gebildet, aber zu gebildet, um nicht-gebildet zu sein? Ähnlich den Untoten, die zu tot sind, um lebendig zu sein, aber zu lebendig, um wirklich tot zu sein?

Das, was einst im primären Narzissmus vertraut, etwas Heimeliges war, wird durch die symbolische Kastration zu einem Unding. Kehrt es – überwunden geglaubt – unerwartet und ungebeten in der neuen psychischen Ordnung – der Herrschaft des Realitätsprinzips – wieder, wird es zum Unheimlichen oder Unding, das in der neuen Ordnung keinen zugewiesenen Platz vorfindet.[3]

Ein ähnliches Schicksal erleiden hier wohl auch jene „Ungebildeten“ aus den sogenannten „bildungsfernen Schichten“: sie haben die Heimeligkeit, die Vertrautheit ihrer eingeborenen bildungsfernen Klasse[4] verlassen, um auf einem steinigen Weg die Sphäre der „Universitas[5], der gebildeten Klassen, zu erreichen. Sie gehören zu jenen, die keinen Platz mehr in einer der Klassenordnungen haben, sie sind ein seltsames Zwischending. Sie werden als „aus den bildungsfernen Schichten“ (das – vermeintlich – Überwundene) oder beschönigender als „first academics“ bezeichnet. In die Klasse ihrer Herkunft passen sie nicht mehr, in die Klasse der Bildungsbürger passen sie (noch?) nicht. Sie sitzen zwischen den Stühlen, bewegen sich zwischen zwei Welten, und rempeln beide hin und wieder auch gehörig an. Sie sind gleichzeitig zu viel, und zu wenig, sie verkörpern Überschuss und Mangel gegenüber ihrer bildungsfernen Herkunftsklasse und der gebildeten Klassen gleichzeitig, verfügen über einen doppelten Blick, wechseln ihre Blick – und Standpunkte zwischen den Welten.

Hat man schließlich den Aufstieg in, und die Akzeptanz der Klasse des akademischen Bildungsbürgertums in gewissen Sparten der Geisteswissenschaften erreicht, so wurde dies meist erkauft durch perfekte Anpassung, Anbiederung, Verschleierung und Verleugnung der eigenen Herkunft. Man braucht ja schließlich den richtigen Stallgeruch. Nein, man spricht nicht mehr Dialekt, und man benützt auch die Sprache der Herkunftsklasse[6] nicht mehr, denn zu viele geächtete „Unwörter“ enthält sie, und sie könnte einen als Zuagroaßten – Verzeihung – „immigrant“ entlarven. Eine (politisch) korrekte Sprache zu benutzen, und ständig up to date zu sein, was man denn noch sagen darf, und was mittlerweile verpönt ist, bringt schließlich – vor allem in den Geisteswissenschaften – massives Distinktionskapital. Hat man die Phase der Versöhnung mit der eigenen Herkunft nie durchlaufen, wird man vermutlich kaum jemals den daraus resultierenden Groll los und tut sein Möglichstes, um den Habitus (Bourdieu) der Klasse, deren Zugehörigkeit man anstrebt, durch und durch zu assimilieren. Damit läuft man auch Gefahr, die Spielregeln des Systems der Eingeborenen des Bildungsbürgertums[7] (Bourdieu) vollkommen und unreflektiert zu verinnerlichen, nur um endlich wieder einen Platz haben zu dürfen.
…  aber vielleicht ist ja genau das die vielbeschworene „Teilhabe“, von der immer gesprochen wird?

Den Ungebildeten an den tertiären Bildungseinrichtungen stehen die Eingeborenen des Bildungsbürgertums gegenüber. Viele Eingeborene haben die Tendenz – auch aufgrund der gegenwärtig forcierten Identitätspolitik – diese Andersheit der „Bildungsfernen“ aufgrund der sozialen Herkunft zu betonen – teils bewusst romantisierend, teils unbewusst abwertend, oder beides – bewusst oder unbewusst – gleichzeitig. Diese Fokussierung auf die Herkunft ist aber meist für die Eingewanderten des Bildungsbürgertums wenig hilfreich, denn betont wird das Trennende – die Herkunft, und nicht das Gemeinsame – u.a. die Neugierde und der Wissensdurst. Wird diese Betonung der sozialen Herkunft noch mit Mitleid[8] gepaart, erhalten jene Eingeborenen durch eine seltsame Form von Ablasshandel Balsam auf ihre von Schuldgefühlen geplagten Seelen.  Spätestens seit Bourdieu wissen sie, dass Bildung und Status nicht naturgegeben sind, sondern durch soziale Ungleichheit und Vererbung verschiedenster Kapitalarten erlangt wurde. Werden jene Eingeborenen des Bildungsbürgertums, die die wahre Herkunft ihres Status verdrängen, durch die bildungsfernen Emporkömmlinge schmerzlich ihrer Verdrängung beraubt? Ist das, was sie verheimlichen und verdrängen, eben jener Startvorteil durch die „Geburtslotterie“? Stellt der – wenn auch nur zeitweise – bewusste oder unbewusste Zusammenbruch dieser Verdrängung, getriggert durch die Einwanderer den eigenen „erhabenen“ Status in Frage?

Ein Witz, notiert von Sigmund Freud, dient hier als Lehrstück:

Der Arzt, der gebeten worden ist, der Frau Baronin bei ihrer Entbindung beizustehen, erklärt den Moment für noch nicht gekommen und schlägt dem Baron unterdes eine Kartenpartie im Nebenzimmer vor. Nach einer Weile dringt der Wehruf der Frau Baronin an das Ohr der beiden Männer. »Ah mon Dieu, que je souffre!« Der Gemahl springt auf, aber der Arzt wehrt ab: »Es ist nichts, spielen wir weiter.« Eine Weile später hört man die Kreißende wieder: »Mein Gott, mein Gott, was für Schmerzen!« – »Wollen Sie nicht hineingehen, Herr Professor?« fragt der Baron. – »Nein, nein, es ist noch nicht Zeit.« – Endlich hört man aus dem Nebenzimmer ein unverkennbares: »Ai, waih, waih« geschrien; da wirft der Arzt die Karten weg und sagt: »Es ist Zeit.«[9]

Freud bemerkt hier treffsicher, dass, wenn es an den Bodensatz, die existenziellen Grundbedürfnisse, das Physische, das Überleben geht, „[…] durch alle Schichtungen der Erziehung die ursprüngliche Natur […]“[10] durchbricht – die Wiederkehr dessen, was von Kultur und Bildung überlagert, eingedämmt wurde. Die „Bildungsfernen“ markieren durch ihre Herkunft und ihr Da-sein an den Universitäten das memento einer unerhörten narzisstischen Kränkung für manch eine(n) Eingeborene(n) des Bildungsbürgertums: „Wäre die glückliche Herkunft, Erziehung und Bildung nicht gewesen, hätte auch aus mir ein(e) BarbarIn werden können!“

Petra Kettl, 2019-12-27

 

 

[1] Vgl. Eribon, Didier (2016): Warum die Arbeiterklasse nach rechts rückt. Deutschlandfunk Kultur. Sein und Streit vom 4.12.2016 https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-didier-eribon-warum-die-arbeiterklasse-nach.2162.de.html?dram:article_id=373082

[2] Vgl. Pfaller, Robert (2019): Das Un- ohne Ding. Beitrag auf diesem Blog: https://dasunding.ufg.at/2019/08/26/das-un-ohne-ding/

[3] Siehe dazu Freud, Sigmund (1919): Das Unheimliche. In: ders: Studienausgabe Bd. IV – Psychologische Schriften, Frankfurt/M.: Fischer, 201211, S 241-274. 
Zum Begriff der symbolischen Kastration siehe Evans, Dylan (2017)2: Das Wörterbuch der Lacan‘schen Psychoanalyse. Wien: Turia+Kant

[4] Ich verwende – mit Eribon – ganz bewusst den Begriff der Klasse, und nicht jenen der Schicht oder des Milieus. Eribon: „Ich habe in meinem Buch [Rückkehr nach Reims, Edition Suhrkamp – Anm. PK] ganz absichtlich von sozialen Klassen gesprochen, ich wollte diesen Terminus auch wieder zurückbringen in die Diskussion. Er ist ja auch ausgelöscht worden aus dem intellektuellen Diskurs seit den 80er Jahren. Und das war ein politischer wie ebenso theoretischer Akt den ich da ganz bewusst begangen habe, indem ich wieder von sozialen Klassen spreche, und nicht nur von dem was man uns glauben machen lässt, dass es unterschiedliche Milieus gibt mit – ja – geringfügigen Unterschieden. Und die Arbeiter gehören einfach einer Klasse an, die unter gewissen Lebensbedingungen lebt und auch leidet und die auch sich sehr stark selbst definiert als eine Klasse, die anderen untergeordnet ist. [….] der marxistische Diskurs findet seitdem eigentlich nicht mehr statt und von daher ging man aus, damit sei nun auch die Klasse verschwunden. Aber nur weil ein Diskurs entfällt, haben sich die sozialen Realitäten nicht verändert ….“ Eribon, Didier (2016): Warum die Arbeiterklasse nach rechts rückt. Zusammenfassung a.a.O., Transkription des Podcast-Ausschnitts: P.K.

[5] Lat. Das Ganze, die Gesamtheit, der Inbegriff aller Dinge eines Ganzen“ – diese etymologische Betrachtung des Begriffes „Universität“ sollte sich manch eine(r) wieder in Erinnerung rufen, wenn in entmündigender Manier nach „Triggerwarnungen“ und „Safe-Spaces“ im Namen jener gerufen wird, die diesen Schutz wahrscheinlich gar nicht wollen oder brauchen. Wie viele Studierende aus den sogenannten „bildungsfernen Schichten“ wurden in bestimmten Fakultäten an Universitäten wohl früher oder später desillusioniert, als sie bemerkten, dass es dort nicht darum geht, einen kritischen Diskurs über alle erdenklichen Dinge und Probleme, über Gott und die Welt zu führen, sondern oftmals nur darum, die eigene Ich-Libido zu hegen und zu pflegen und das eigene Distinktionskapital (Bourdieu) gewinnbringend zu verzinsen.

[6] Sprache ist verräterisch – dies ist die Lektion von „My fair Lady“ (- Dank an I. Habereder für den Hinweis)

[7] Siehe Bourdieu, Pierre (1968-70): Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung. In: ders. Schriften Bd. 12. Berlin: Suhrkamp, 2015. S 51-88

[8] Ich folge hier Friedrich Nietzsche als Mitleidsverächterin, und halte das Mitleid – u.a. mit Bezug auf Käthe Hamburger – für Distanz schaffend und entmündigend. – siehe hierzu: Hamburger, Käthe (1985): Das Mitleid. Hamburg: Klett-Kotta

[9] Freud, Sigmund (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. https://gutenberg.spiegel.de/buch/der-witz-und-seine-beziehung-zum-unbewussten-933/1, abgerufen am 26.12.2019

[10] ebd.

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