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DAS DEN, WIE ES IN DIE WELT KAM

Eine sehr plausible These besagt, dass der antike Atomismus aus der Konfrontation mit der eleatischen Philosophie hervorgegangen ist. Es ging um das Problem der Veränderung. Die Eleaten lösten das Problem indem sie behaupteten, dass es Veränderung nicht gibt. Der Gründer ihrer Schule, Parmenides aus Elea, stellte ein streng deduktives System[1] auf, aus dessen Prämissen sich logisch diese Lösung ergibt. Nach Karl Popper[2] lässt sich diese Deduktion sehr vereinfacht  in dem folgenden quasi-syllogistischen Schema darstellen:

 

P1: Sein ist

P2: Nichts ist nicht                  .

C: Es gibt keine Veränderung

 

Die vorsokratischen Atomisten (Leukipp  und Demokrit) griffen dieses System an, indem sie zunächst die Prämissen unangetastet ließen und die Konklusion mit der Wirklichkeit kontrastierten. Es zeigt sich doch, argumentierten sie, dass sich in der Wirklichkeit alles ständig verändert. Also sei die Konklusion falsch. Wenn in einer syllogistischen Deduktion die Konklusion falsch ist, dann muss mindestens eine Prämisse falsch sein. Die erste Prämisse („Sein ist“) ließen sie bestehen und warfen deshalb die zweiter Prämisse („Nichts ist nicht“) um. Seitdem gibt es das Nichts in der Philosophie[3].

Meiner Meinung nach kann man die Entstehung des sogenannten „aleatorischen Materialismus“[4], jener Philosophie, die Louis Althusser anfang der 1980er Jahre entwickelt hat, zu der Entstehung des vorsokratischen Atomismus in Parallele setzen. Das Problem, um das es ihm ging, war das Problem der gesellschaftlichen Veränderung. Das System, mit dem er sich konfrontiert sah, war der orthodoxe Marxismus, dessen Konklusion nicht mehr mit der Wirklichkeit zusammenpasste und dessen Prämissen folglich falsch sein mussten. Althusser verwarf deshalb die Prämissen und stellte völlig neue auf.

Mit der Einführung des Nichts veränderte sich auch das Sein. Es war nicht mehr das homogene, parmenideische Ganze, sondern zerfiel in eine Vielheit von Entitäten. Diese Entitäten, die Atome konnten sich im „Leeren“ bewegen, Veränderung war nun möglich. Zugleich war nun auch Entstehen und Vergehen möglich: Strukturen können sich in ihre Einzelteile auflösen, aus denen wieder neue Strukturen sich bilden können. Wenn das Operieren mit „den“ (Ichts) und „meden“ (Nichts) mehr sein soll als nur eine formale Spielerei, dann muss man es, wie das auch Althusser getan hat, in den Zusammenhang mit dem Problem der Veränderung stellen. Es ist immer von den bereits konstituierten Strukturen (dem „Es gibt[5]) auszugehen. Im Gegensatz zu einer deduktiven Methode, wie jener des Parmenides, (die man mit Leibniz auch als synthetisch[6] bezeichnen kann), ist diese Methode eine analytische: die bestehende Struktur ist das Problem. Zu erklären ist, aus welchen Elementen und auf welche Weise der Zusammenfügung diese Struktur entstanden ist. Von der konkreten Struktur ausgehend, stößt die Analyse auf Erzeugende, auf Atome als „Ursachen“ (Marx[7]) der Entstehung der Struktur. Die Analyse könnte theoretisch immer weiter gehen, doch sie macht Halt, wenn sie bei letzten Elementen angekommen sind, die zur Erklärung der Entstehung  ausreichend sind.

Das „den“ bezeichnet diese retrospektiv erschlossenen Elemente im Status ihrer Unverbundenheit und das „meden“ diese Unverbundenheit, ihre (noch) Nicht-Begegnung.[8] Nur wenn die Begegnung auch tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich retrospektiv auf eine Phase schließen, in der sie noch nicht verbunden waren.

Die Unverbundenheit („meden“) wird aufgehoben, damit auch das  Ungebundene („den“), das seinen Status als atomistische Einzelheit aufgibt, aber gerade durch diese Verbindung erst aus der Virtualität in die Realität tritt, indem es, wie die retrospektive Analyse zeigt, als Ursache (im Sinne von Marx) wirksam wurde und dadurch zur Wirklichkeit gelangte.

Albrecht Kreuzer 2019-09-11

 

 

[1] Ein deduktives System geht von allgemeinen Grundsätzen aus und mit diesen an die Welt (Phänomene) heran. Für eine deduktive Ableitung wird zumindest ein oberstes Grundprinzip und ein Prinzip der Spezifikation benötigt.

[2] Karl Popper, Die Welt des Parmenides, München 2001, S. 128, 147, 170. Ob sich die Ableitung in einen exakten Syllogismus bzw. eine Reihe von Syllogismen bringen lässt, ist in der Parmenidesforschung nicht abschließend geklärt. Zur Widerlegung durch die Atomisten siehe S. 155, S. 198.

[3] Demokrit: „me mallon to den e to meden“, „Das Nichts existiert um nichts weniger als das Seiende (Ichts)“;  DK B 156. Sie auch DK 68 A 37 und A 49.  Das meden bei Parmenides: „Man muss sagen und denken, dass Seiendes ist: das kann nämlich sein, nichts (meden) aber kann nicht sein.“ (DK 28 B 6, 1-2)  

[4] Louis Althusser, Der unterirdische Strom des Materialismus der Begegnung, 1982, ist der Kerntext dieser neuen Philosophie: http://www.episteme.de/download/Althusser-Materialismus-Begegnung.pdf

[5] Althusser 1982, S. 4, 11, 19, 21. Mit seinem Fokus auf das „Es gibt“ hebt Althusser nachdrücklich die Bedeutung das Gegebenen, tatsächlich Vorhandenen heraus. Und „es gibt“ die Atome eben nicht. Was es gibt, sind die Phänomene, die es zu analysieren (in ihre Bestandteile als Erklärende zu zerlegen) gilt.

[6] G.W. Leibniz, Die Methoden der universellen Synthesis und Analysis; In: Philosophische Werke in vier Bänden, Hamburg 1996, Bd1, S. 24-35. Kant nennt diese analytische Methode „Epikureismus“ und stellt sie dem „Platonismus“ gegenüber (KrV. A 472, B 500).

[7] Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEW Bd. 40, S. 282.

[8] Althusser bringt als Beispiel für eine Nicht-Begegnung, aus der ein Zusammenschluss hervorgehen hätte können, die Ereignisse  vom Mai 1968 in Paris, als „am 13. Mai die Arbeiter und die Studenten, die sich zusammenschließen sollten, sich in ihren langen parallelen Demonstrationszügen kreuzten, ohne jemals zusammenzukommen, indem sie es um jeden Preis vermieden zusammenzukommen, sich zu vereinen zu einer Einheit, die zweifellos für immer ohne Präzedenzfall ist.“ (Althusser 1982, S. 28). Beispiel für eine Begegnung, die zur Entstehung eine Struktur geführt hat ist dagegen die Begegnung zwischen dem „Mann mit den Talern“ und der „nackten Arbeitskraft“ (S. 29), aus der die kapitalistische Produktionsweise hervorgegangen ist. Innerhalb der konstituierten Struktur haben diese Elemente einen neuen Charakter (Kapital, Facharbeiter) angenommen. Nur im Rückblick lassen sich diese beiden als erzeugende dens und ihre Verbindung als Wegfallen des sie trennenden meden erkennen.

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