Mein Freund, der brillante deutsch-indische Philosoph Pravu Mazumdar, war mir, lange bevor ich ihn persönlich kennenlernen durfte, bekannt. Wenn auch nicht namentlich. Vor Jahren hatte ich auf YouTube das Video eines Vortrags von Slavoj Zizek gesehen, in dem er von einem aus Indien stammenden Philosophen sprach, der als profunder Kenner der französischen Gegenwartsphilosophie über diese ein Buch geschrieben hatte. Nach dem Erscheinen des Buches, war er mit Reaktionen wie dieser konfrontiert:
Schreiben’s doch über Indien!
„Sie kommen aus Indien? Welch wunderbare Kultur! Warum schreiben’s dann über französische Philosophie? Schreiben’s doch über Indien!“
Antoine de Saint-Exupéry schreibt über die Entdeckung des Asteroiden B 612, des Heimatplaneten seines „Kleinen Prinzen“:
„Der Asteroid B 612 ist […] nur ein einziges Mal im Jahre 1909 von einem türkischen Astronomen im Fernrohr gesehen worden. Er hatte damals beim internationalen Astronomenkongress einen großen Vortrag über seine Entdeckung gehalten. Aber niemand hatte ihm geglaubt, und zwar ganz einfach seiner Tracht wegen. Die großen Leute sind so. Zum Glück für den Ruf des Planeten B 612 befahl ein türkischer Diktator seinem Volk bei Todesstrafe, nur noch europäische Kleider zu tragen. Der Astronom wiederholte seinen Vortrag im Jahre 1920 in einem sehr eleganten Anzug. Und diesmal gaben sie ihm alle recht.“1
Versetzten wir jene „wohlwollenden Kritiker“ Pravu Mazumdars im Sinne eines Gedankenexperiments in diese Passage des „Kleinen Prinzen“, dann würden sie unserem Astronomen, während dieser seinen Vortrag in einem „sehr eleganten Anzug“ wiederholte, wohl folgendes zurufen:
„Sie kommen aus der Türkei? Welch wunderbare Kultur! Warum beschäftigen Sie sich dann mit diesem seltsamen Asteroiden? Schreiben’s doch über die Türkei!“
Anders als unser türkischer Astronom im Jahre 1909, trägt mein Freund Pravu Mazumdar weder bei Buchpräsentationen noch privat eine indische Tracht. Dennoch aber wird ihm, anders als dem türkischen Astronom des Jahres 1920, vielfach „nicht recht gegeben“. Es wird ihm, anders gesagt, das Recht abgesprochen, als „Angehöriger der wunderbaren indischen Kultur“ auch noch etwas anderes zu sein als „Angehöriger der indischen Kultur“ – zum Beispiel Kenner der französischen Gegenwartsphilosophie.
Diesem letzten Satz würden jene „wohlwollenden Kritiker“ meines Freundes aber wohl empört zurückweisen. So, hätten sie es nicht gemeint. Sie seien schließlich keine Rassisten, sondern Bewunderer „fremder Kulturen“. Seltsam aber, dass es weder jenen wohlwollenden „Bewunderer fremder Kulturen“ noch sonst jemandem einfallen würde, einem französischen Autor, der ein Buch über indische Philosophie geschrieben hat, zuzurufen:
„Sie kommen aus Frankreich? Welch wunderbare Kultur! Warum beschäftigen Sie sich dann mit Indien? Schreiben’s doch über Frankreich!“
Von wegen Eurozentrismus
Noch vor wenigen Jahrzehnten bedeutete Weltoffenheit gegenüber Fremden, dass man ihnen versicherte, dass sie unabhängig von ihrer Herkunft und „ihrer Kultur“ in unserer Gesellschaft willkommen sind. Heute sitzt die Vorstellung, dass Fremde in erster Linie „ihre Kultur“ repräsentieren – und dann lange nichts – offenbar so tief, dass auch Weltoffene nicht ohne die ausdrückliche Betonung der „Kultur“ jener Fremden auszukommen scheinen. Diese „fremden Kulturen“ – und nicht die Individuen, die ihnen subsummiert werden – sollten wir, so die Devise dieser neuen Weltoffenheit, „so wie sie sind“ respektieren und an ihnen keinen „fremden“ Maßstab anlegen – denn das wäre überheblich. Wenn es sich um außereuropäische Kulturen handelt, versteht sich diese neue Weltoffenheit folglich als Gegenposition zum „Eurozentrismus“.
2009 kam es nach Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen im Iran zu Massenprotesten, die Erinnerungen an die Revolution von 1979 wachriefen. Ich schrieb damals einen Essay, der die Bezugnahmen jener Protestbewegung auf die Revolution des Jahres 1979 Revolution mithilfe von Sigmund Freuds und Walter Benjamins Theorien der Nachträglichkeit zu analysieren versuchte und schickte ihn an die „Neue Zürcher Zeitung“. Daraufhin entstand eine seltsame Kontroverse. Die zuständige Redakteurin meinte, mein Essay würde die an den Iran interessierten Leser vor den Kopf stoßen. Diese würden einen Text über den Iran erwarten, sich aber „stattdessen“ mit „westlichen Theorien“ konfrontiert sehen.
Der Iran fiel für jene Redakteurin offenbar unter die Kategorie „fremde Kultur“ – und hatte als solche mit „unserer westlichen“ nichts zu tun (zu haben). Meine Bezugnahmen auf Freud und Benjamin hatten sie insofern irritiert, als ihr schon der Gedanke, Entwicklungen in der iranischen Gesellschaft mit Gedankenmodellen „aus der westlichen Kultur“ erfassen zu wollen, undenkbar schien.
Hatte Pravu Mazumdar – der Repräsentant der „wunderbaren indischen Kultur“ – indem er über französische Philosophie geschrieben hatte, in den Augen jener „Kulturbewunderer“ eine unverständliche Sünde begangen, so musste mein Essay in den Augen jener Redakteurin eine unverzeihliche Todsünde darstellen: Zwar hatte ich – ein aus dem Iran stammender Schriftsteller – „so wie es sich gehört“ einen Text über „meine“ Kultur verfasst, allerdings unter Zuhilfenahme „westlicher Theorien“. Ich hatte also als Iraner einen eurozentrischen Standpunkt eingenommen. Und an „meine eigene“ Kultur einen fremden Maßstab angelegt. Wohingegen die NZZ-Redakteurin – eine Angehörige der „europäischen Kultur“ – mich vor der Todsünde des Eurozentrismus zu bewahren versuchte.
Die Haltung jener Redakteurin und der Wunsch der „wohlwollenden Kritiker“ Pravu Mazumdars, er möge nicht über die französische Gegenwartsphilosophie, sondern über „die wunderbare indische Kultur“ schreiben, sind typisch für den Diskurs der Identitätspolitik, der seit den 1970er Jahren die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Debatten des Westens mehr und mehr dominiert. Ein Diskurs, in dem Politik und Gesellschaft durch unauflösliche Differenzen verschiedener kollektiver „kultureller Identitäten“ geprägt scheinen. Unterschiede oder Widersprüche zwischen verschiedenen sozialen Klassen ein und derselben „Kultur“ oder zwischen den Individuen und „ihrer“ Kultur haben in diesem Diskurs keinen Platz.
Herrschen und Sprechen
Diese Eliminierung eigenständiger Individuen aus dem Diskurs, ihre Gleichsetzung mit und Auflösung in „ihrer“ Kultur, mit der sie identifiziert werden und mit der sie sich häufig auch selbst identifizieren, erinnert an die Lebens- und Gedankenwelt archaischer Stammesgesellschaften. Wo jeder Stammesangehörige seinen Platz und jeder Stamm seine Bräuche hat.
Die Verwandtschaft zwischen der Ideologie der Identitätspolitik und dem Bewusstsein von Angehörigen archaischer Gesellschaften wirft wiederum ein überraschendes Licht auf die Rolle die in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten der Sprache zukommt.
Die Gedankenwelt archaischer Gesellschaften wurde, wie Sigmund Freud gezeigt hat, vom Prinzip der „Allmacht der Gedanken“ bestimmt: In dieser Welt kann eine Verwünschung oder auch nur ein böser Gedanke einen Feind töten, das Aussprechen einer Formel den Regen herbeizaubern oder Krankheiten heilen und ähnliches mehr.
Eben dieses magische Denken scheint auch bestimmten von den Idealen der Identitätspolitik beherrschten Formen der „Political Correctness“ zugrunde zu liegen. Gemeint sind selbstverständlich nicht zivilisatorische Selbstverständlichkeiten, wie etwa die Verhaltensregel, niemanden als „Neger“ oder „Zigeuner“ zu bezeichnen – sprich: zu beschimpfen, sondern jenes (unausgesprochene und unbewusste) Konzept von Politik, das die komplexe Wechselbeziehung zwischen Sprache und Herrschaft ausblendet. Und politisches Handeln auf die Reglementierung des Sprechens reduziert. Als würde Sprache nicht nur Bewusstsein sondern – unvermittelt – Realität erzeugen. Als gäbe es keine außersprachliche Realität, keinen stummen Zwang der – ökonomischen und politischen – Verhältnisse. Und als würden die Herrschenden, frei nach Johannes Agnoli, nicht herrschen, weil sie herrschen, sondern weil sie sprechen.
„… hasse es und spreche es nie aus“
Vor Jahren schrieb ich die Erzählung „Der Heiligenscheinorgasmus“2, die – in den Worten eines von Nietzsche begeisterten Freundes – „von der Geburt der österreichischen Identität aus dem Geiste der Beschimpfung“ handelt und reichte sie bei einem Wettbewerb ein, wo er den zweiten Preis gewann. Später erfuhr ich zufällig, dass die Mehrzahl der Jurymitglieder dem Text den ersten Preis zuerkennen wollten. Ein Mitglied hatte ihn aber als „rassistisch“ empfunden – und durchgesetzt, dass er auf Platz zwei zurückgestuft wurde.
„Rassistisch“ war für jenes Jurymitglied offenbar ein Abschnitt, in dem der aus „Persien“ stammende Protagonist von zwei Schweizerjungen als „Neger“ beschimpft wird und in weiterer Folge meint: „Ich hasse das Wort ‚Neger’, hasse es und spreche es nie aus“. Politisch korrekter kann ein Text, der von Rassismus, Ressentiments und Identitätsklischees handelt, eigentlich nicht verfasst sein – möchte man meinen. Für jenes Jurymitglied erfüllte aber offenbar die bloße Erwähnung des Wortes „Neger“, unabhängig von Intention und Kontext der Erwähnung, den Tatbestand des „Rassismus“. Zu Ende gedacht, würde eine solche Haltung jede kritische Auseinandersetzung mit Rassismus verunmöglichen, sofern diese die kritisierten Positionen der Rassisten auch nur benennt.
Um den Unterschied zwischen Worten und Dingen, zwischen der symbolischen und der realen Ebene ausblenden zu können, muss das Bewusstsein zuvor die Realität, somit sich selbst, abschaffen. Mit anderen Worten: Sich im Wahn auflösen. Für Gesellschaften, in denen die – vom magischen Denken geprägte – Identitätspolitik die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Debatten dominiert, verheißt dies nichts Gutes.
Vortragstext der Unding-Soirée von Sama Maani, 2019-12-17
1 Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz, Zürich 1950, S. 16 f
2 Sama Maani, Der Heiligenscheinorgasmus und andere Erzählungen, Klagenfurt 2016