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Die Dinge und die Undinge des Protagoras

Parmenides, genannt „der Vater“, hat der Suche nach dem Nichts (hôs ouk estin – „dass etwas nicht ist“[1]) von vornherein einen Riegel vorgeschoben:

„Von diesem Weg der Suche halte dich fern.“ (DK 28 B 1-19)

Alle folgenden Philosophen setzten sich nun mit diesem Verbot auseinander, so auch der Sophist Protagoras aus Abdera. Sein berühmter Homo-mensura-Satz bezieht, wenn er vollständig gelesen wird, die nichtseienden Dinge mit ein: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, wie sie sind, der Nichtseienden, wie sie nicht sind.“[2]

Man könnte versucht sein, Protagoras idealistisch zu interpretieren und das Sein ganz von dem Bewusstsein des Menschen abhängen zu lassen, die objektive Realität ganz in die Idealität aufzulösen. Die folgende, meiner Meinung nach zu wenig beachtete Stelle bei Sextus Empiricus legt allerdings eine „realistischere“ Interpretation nahe:

„Ferner behauptet er, die Gründe der Erscheinungen lägen in der Materie vor, so daß die Materie an sich selbst alles das sein könne, was allen erscheine.“[3]

Nach Parmenides gibt es Namen nur für real Seiendes.[4] Protagoras dagegen meint, es gibt auch Namen, von denen wir nicht wissen, ob dahinter etwas Seiendes steht oder etwas Nichtseiendes. Ein Beispiel sind die Götter. Von ihnen sagt er:

„Über die Götter vermag ich nichts zu wissen, weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind. Denn vieles hindert hier die Erkenntnis, sowohl die Dunkelheit (ἀδηλότης) der Sache als auch die Kürze des menschlichen Lebens.“[5]

Bemerkenswert ist, dass auch in diesem Zitat neben der subjektiven Seite eine objektive Seite angesprochen wird: Die Dunkelheit, Unzugänglichkeit, Unaufschließlichkeit, Nichtoffenbarkeit des Gegenstandes. Für die subjektive Seite steht die Kürze des Lebens. Diese verlangt vom Menschen, seine physischen und geistigen Ressourcen ökonomisch einzusetzen und das heißt: für die Dinge, die für ihn Relevanz haben, also in erster Linie die praktischen Angelegenheiten des alltäglichen Lebens. Es zeigt sich hier das Bewusstsein, dass die Suche nach Erkenntnis eine materiell-energetische Tätigkeit ist, die Zeit verlangt. Die unerschlossenen Undinge würden einen gewaltigen Aufwand an Lebenszeit und Denkenergie erforderlich machen, um auf dem Weg der Suche nach ihnen weiter vorzudringen. Der Mensch entscheidet letztlich selbst darüber, welche Dingen für ihn relevant sind und seine Aufmerksamkeit erfordern. Nicht ausgeschlossen ist aber, dass sich die Undinge aufdrängen, zu einer relevanten Sache machen und die Suche in Gang setzen.

Albrecht Kreuzer, 2019-11-12

[1] S. dazu Thomas Buchheim, Die Vorsokratiker, München 1994, S. 115ff.

[2] Platon, in Theaitetos 152a: φησὶ γάρ που ‘πάντων χρημάτων μέτρον’ ἄνθρωπον εἶναι, ‘τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστι, τῶν δὲ μὴ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.’  – Deutsch: „Er [Protagoras] sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der Seienden, wie sie sind, der Nichtseienden, wie sie nicht sind.“ (Übersetzung nach Schleiermacher, der richtig ὡς mit ´wie´ und nicht mit ´daß´ übersetzt.) – Ein Maß benötigt etwas, woran man es anlegen kann. Dieses ist also das Primäre, auch wenn es nichtseiend ist.

[3] Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis I, 218 (S. 145), Frankfurt am Main, 1985.

[4] Vgl. Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes, München 1999, S. 71.

[5] Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.): Fragmente der Vorsokratiker 80 B4 = Diogenes Laertios, Über Leben und Lehren berühmter Philosophen 9,51.

 

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